Unterricht beim Lehrer Männer

Lehrer Männer KopfbildDie vier Klassen in dem Schulraum vom Lehrer Männer wurden folgendermaßen unterrichtet: Die vierte und fünfte lernten stets das gleiche, die sechste und siebente ebenso. Demnach hätte also ein Schüler aus der vierten Klasse nach vollendetem Schuljahr ohne weiteres in die sechste aufsteigen können, aber wahrscheinlich sagte man sich: »Doppelt gelernt hält besser.« Im übrigen kostete es auch viel Mühe und unendliche Geduld, den zahlreichen, oft erschreckend zurückgebliebenen, stumpfen Bauern- und Häuslerskindern, die daheim zu nichts anderem angehalten wurden als zur Arbeit und zur Religion, auch nur halbwegs den gewiß nicht umfänglichen Unterrichtsstoff beizubringen. Sie kamen aus entlegenen Dörfern und Einödhöfen, die meist noch nie ein Fremder betreten hatte, während wir aus Berg und vom Seeufer, wo viele vornehme Herrschaftsvillen standen und ein reger alljährlicher Sommerfrischlerverkehr herrschte, doch immerhin mit der größeren Welt in Berührung standen und manches annahmen. Wie es bäuerliche Art ist, hielten die Eltern jener Kinder überhaupt nicht viel vom Lernen. Der gewohnte Gott und die ewiggleiche Ackererde schienen ihnen das wichtigste für einen heranwachsenden Menschen. Wenn erobendrein oder nebenher noch einigermaßen lesen, schreiben und rechnen konnte, war das schon übergenug, ja, fast erstaunlich. Alles andere galt für das spätere Leben als ziemlich zwecklos.

Es will also wenig besagen, dass wir, die leicht und zum Teil auch gern lernten, dem Lehrer in dieser Hinsicht nur wenig Ärger bereiteten, aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass der Männer uns Kinder vom Bäcker Graf schätzte. Und seitdem ihn unser Vater so grob beleidigt hatte, verhielt er sich natürlich noch um einige Grade kühler zu uns. Er trug uns auch noch etwas anderes nach. Er sah es zum Beispiel besonders gern, wenn sich am Prüfungstag, nachdem das übliche Pensum durchgenommen war, noch Schüler oder Schülerinnen meldeten, um ein Extragedicht vorzutragen. Freilich war das meistens nur ein mechanisch auswendig gelerntes Geleier mit lauter falschen Betonungen, bei dem man merkte, dass Kopf und Herz die Worte, die der Mund aussprach, überhaupt nicht erfaßt und begriffen hatten, aber so eine Probe bewies doch den Lerneifer des betreffenden Schülers. Der Männer liebte Gedichte. Wenn er uns gelegentlich eines vorlas, wurden wir zuweilen bewegt. Er las langsam, leicht getragen und sehr schön, gleichsam sich selbst zum Genuss. Am Schluss hielt er einige Sekunden inne und schaute forschend und ein ganz klein wenig feierlich in unsere Reihen, als wolle er die Wirkung feststellen. Dann fing er an, uns sehr einfach und ungemein eindringlich die Wortschönheiten und den Sinn der Verse begreiflich zu machen. Dabei bekamen seine blassen Wangen unverhofft etwas Farbe, seine blanke Glatze schien mehr als sonst zu glänzen, und seine innere Anteilnahme war so sichtbar, so spürbar, dass man glauben konnte, er spräche gar nicht zu Kindern, sondern zu Menschen seines Sinnes. Auch ich hatte Gedichte gerne und las viele davon in den Zeitschriften und Büchern daheim, aber ich las sie immer stumm und behielt sie für mich. So etwas in Gegenwart von anderen Menschen laut vorzutragen, kam mir damals sehr kindisch, exaltiert und lächerlich vor. Und bei meinen anderen Geschwistern war es noch weit ärger. Wir meldeten uns nie.“ …

Leseprobe S. 228 bis 229 aus
Oskar Maria Graf:  „Mitmenschen“
(ursprünglich 1949 erschienenes Essay „Der Lehrer Männer“ 1949) Enthalten auch in der, in den meisten Büchereien verfügbaren,  Werkausgabe unter „Gesammelte Erzählungen  Band 2“ =  „Erzählungen aus dem Exil“ S. 211 bis 248  München, List , 1994 – 495 S.
(ISBN 978-3-471-77695-7)

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