»Was für ein hochgebildeter Mensch!« rühmten die Damen einen Bekannten, der uns den ganzen Abend lang mit einleuchtenden Bemerkungen über Freuds Psychoanalyse, über Jungs neuere Auffassungen, über den literarischen Existenzialismus und den künstlerischen Surrealismus unterhalten hatte. Da einige Damen reizend waren und die Gesellschaft sich in einem Stadium harmonischer Angeregtheit befand, schien es, nachdem sich der betreffende Bekannte bereits vor einer Weile verabschiedet hatte, nicht geboten, zu widersprechen, obgleich sich manche Zuhörer des Eindrucks nicht erwehren konnten, dass der interessante Unterhalter all seine scheinbaren Erkenntnisse und überraschenden Wortwendungen nur aus den neuesten Magazinartikeln über diese Themen bezogen hatte. Einer meiner Freunde bezeichnet eine derartige Betrachtungs- und Ausdrucksart, bei welcher ein gewandtes Gedächtnis und fixe Zungenfertigkeit die Hauptrolle spielen, als »Magazinbildung« und vertritt die Ansicht, dass sie eine frappante Ähnlichkeit mit der schnell wechselnden Damenmode habe. Zuerst verblüfft sie, ihre Keckheit überrumpelt geradezu, und das wird als originell empfunden. Das Originelle reizt, kommt in Schwang, wird sehr schnell epidemisch, Ohr und Auge gewöhnen sich daran, und schließlich braucht sich ein gewandter Plauderer, wie der betreffende Bekannte, nur an all das zu halten, um den Eindruck hoher Bildung hervorzurufen.
»Ja«, sagte mein Freund in die allgemeine Begeisterung hinein, »ja, ein sehr belesener Mann!« Doch mit dem instinktiven Scharfsinn ihres Geschlechtes hatten die Damen die kühle Einschränkung herausgehört, und nun begann ein heiter heftiges Gegeneinander von Meinungen und Argumenten, das zwar recht amüsant wurde, aber zu keiner Klärung führte. Immerhin war man dadurch zum weiteren Nachdenken angeregt worden.
»Bildung ist bewusste Beseligung.« Diesen kaum durchdachten und wohl nur wegen seines aphoristischen Effekts geformten Satz schrieb ich einmal vor ungefähr dreißig Jahren nach einer ähnlich durch diskutierten Nacht in mein Notizbuch. Eigentümlich, dass solch flüchtige Einfälle so zählebig sind. Sofern sie nur ein Gran von Wahrheit besitzen, können sie weder verderben noch absterben, sie behalten ihre immanente, fort zeugende Kraft. Du vergisst sie. Sie sind wie weg gelöscht. In Wirklichkeit aber scheinen sie sich nur in unserem Unterbewusstsein verkrustet zu haben.
Irgendein zufälliges Gespräch nach langer, langer Zeit sprengt diese Kruste auf einmal; das Nicht-zu-Ende-Begriffene, gleichsam nur Erahnte rinnt ins Gemeng deiner Gedanken und beschäftigt, beunruhigt dich mehr als damals. Zuerst bleibt dieses Beschäftigen nur ein behagliches Denkspiel, nach und nach aber – es ist fast wie mit der süßen Sehnsucht eines Verliebten – steigert sich alles zum hitzigen Drang, den umspielten Gedanken in eine plastische Form, in eine unanfechtbare Eindeutigkeit zu bringen.
Um es übrigens gleich zu sagen: Bildung ist hier als persönliche Eigenschaft eines Menschen gemeint und nicht als das, was man allgemein darunter versteht, denn bei diesem letzteren handelt es sich stets nur um das Bildungsgut, das uns vererbt worden ist.
Streng genommen ist der Ausdruck »bewusste Beseligung«, in welchem Gedankliches und Gefühlsmäßiges zusammengekoppelt werden, ein Widerspruch. Dennoch scheint durch ihn der Begriff persönlicher Bildung gekennzeichnet zu sein. Ihrem Wesen nach ist sie eine solche Koppelung. Natürlich hängt sie mit dem zusammen, was ein geistig aufgeweckter Mensch sich im Verlauf der Zeit an Wissen angeeignet und gedanklich verarbeitet hat, aber wenn bei alldem nie ein jähes Erstaunen, eine beseligende Ergriffenheit dazugekommen ist, so dass das Aufgenommene durch den Aufnehmenden dessen ureigenes Gesicht bekommt, dann bleibt dieser Mensch sein Leben lang einer, der zwar sehr viel weiß, der geradezu ein Registrierapparat oder ein Konversationslexikon von Gelehrsamkeit ist, weiter aber nichts.
Wie oft haben wir über den fast einfältig anmutenden Satz »Das Wissen liegt nur in der Zeit« Rilkes hinweg gelesen, nur, weil uns der Wohlklang des ganzen Verses berauschte. Einmal aber blieb dieser Satz stehen und wich nicht mehr. Er zwang uns, über seine Weisheit nachzudenken. Sie wurde uns zum ersten Male bewusst.
In dem Versuch, anderen begreiflich zu machen, was ich als Bildung verstanden wissen will, ist dieses kleine Beispiel besonders erhellend. Es zeigt den Vorgang, bei welchem sich – einfach, weil der eine den Satz als brauchbare Sentenz wörtlich nimmt, während der andere seiner unausgedeuteten Tiefsinnigkeit nachspürt – der Wissbegierige vom Gebildeten scheidet. Grob gesprochen nämlich erinnert mich der erstere stets an die Bauern meiner Heimat während der Inflationszeit, die sich auf Grund dessen, dass sie sich plötzlich und unversehens in Reichtum versetzt sahen, wahllos Konzertflügel, Perserteppiche, Grammophone und Autos kauften, ihre Häuser »modernisieren« ließen und ihre Stuben und Kammern mit teuren, geschmacklosen Möbeln voll stellten, und das nicht nur, weil sie sich nach echter Bauernart mit wertbeständigen Sachen eindecken wollten, sondern weil sie glaubten, all das sei der Inbegriff der »Feinheit«. Es gab sogar nicht wenige unter ihnen, die kauften schließlich dicke Bücher, die »nach was aussahen«, denn, sagten sie sich, »man kann nie wissen, ob so was vielleicht nicht einmal gebraucht werden und von Nutzen sein könne«. Versorgt in allem waren diese Bauern damals, satt, übersatt sogar, und es scheint, dass die meisten erst in einer solchen Lage darauf kommen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Hauptsächlich dachten sie dabei an ihre Kinder, die später einmal etwas »Besseres« werden sollten. Dazu seien zweifellos auch Bücher notwendig.
Ganz besonders erpicht waren sie auf die umfänglichen, vielbändigen Ausgaben unserer Konversationslexika, denn darin, witterten sie, sei das ganze Wissen aufgestapelt. Und ich habe einen Bauern gekannt, der – dadurch, dass er viel mit sogenannten gebildeten Sommerfrischlern zusammen kam und ihre Unterhaltungen ungemein bewunderte – auf einmal darauf verfiel, ganze Absätze aus dem Konversationslexikon auswendig zu lernen, um überall mitreden zu können und vor allem, um von den anderen Dörflern ob seines umfassenden Wissens angestaunt zu werden. Schlauerweise brachte er das Gespräch nach einigen geschickten, unauffälligen Zügen stets auf das Thema, das er insgeheim »gelernt« hatte, und sagte dann den ganzen Absatz ziemlich wortgetreu auf, was, wie sich denken lässt, die Wirkung nie verfehlte. Er galt als hoch gebildet.
Auf dieselbe Weise hamstert der Wissbegierige. Es ist nur ein gradueller Unterschied, wenn man ihn mit dem Bauern vergleicht. Er klappt das ausgelesene Buch zu, besucht Opern und Theaterstücke, versäumt keine wichtige, vielbesprochen Ausstellung von alten und modernen Kunstwerken und sagt sich jedesmal: »So, das kenne ich nun auch.« Er ist damit zufrieden und fertig, kann darüber reden und geht ans nächste. Aber wo er endigt, beginnt der Gebildete erst, denn Wissen bereichert wohl, Bildung dagegen vertieft. Hat sie uns einmal in ihren Bann gezogen – und sei es auch nur durch die Berückung, in die uns ein einziges Gedicht, der Satz einer Symphonie oder die Besonderheit der Farbgebung an einem Bild versetzt -, so sind wir ihr zeitlebens verfallen. Demjenigen, der großes Wissen erstrebt, strömen die Fakten zu, dem Gebildeten erschließt sich jedes mal eine Welt. Diese Welt ist vielschichtig und nicht auf einmal zu bewältigen, wie der Wissbegierige annimmt. Sie verändert sich mit den verschiedenen Lebensaltern oft so sehr, dass das Neue, das dabei hinzukommt, stets wie eben entdeckt wirkt. Deswegen die jedesmalige tiefe, stille Begeisterung über so eine Neuentdeckung beim Gebildeten. Neue Tiefen hellen sich auf, und höhere Gefühlsreize entstehen dabei. Dadurch ändert sich der ganze innere Mensch fortwährend. Nicht nur seine geistige Selbständigkeit reift, nicht nur seine Witterung für das Wesentliche steigert sich, auch die Art, Aufgenommenes gedanklich und gefühlsmäßig auszuschöpfen, nimmt ganz bestimmte Züge an, und zuletzt ist er der Ausdruck alles dessen. An die Stelle von Übertriebenheit und Banalität tritt die zwingende, klare Einfachheit, und das Kennzeichen eines wahrhaft Gebildeten ist sein völliges Freisein von jeder eitlen Überheblichkeit. Er ist demütig. Emerson, dessen pastorale Hausbackenheit oft recht langweilt, findet dafür einmal den erstaunlichen Satz: »Der Mensch ist nur halb er selbst – die andere Hälfte ist sein Ausdruck.« Das ists!
Ausdrücklich muss der marxistischen Auffassung, die der Bildung eine »soziale Funktion« zuweist, widersprochen werden, denn dies Auffassung basiert auf dem Kernsatz »Wissen ist Macht« und missversteht, missdeutet das Wesen der Bildung vollkommen, in dem sie a priori annimmt, es handele sich dabei um etwas allgemein Erlernbares, das auf Grund genügender Schulung zu einer brauchbaren Instrument, zur Waffe im Kampf um die politisch Macht wird. Bildung aber wurzelt nicht in einem solchen Zweck und Nutzungsbewusstsein. Sie ist vielmehr etwas, das von keine gesellschaftlichen Ordnung abhängt und ihr auch nie untertan sein kann. Sie bleibt stets eine absichtslos geistig-menschliche Mission einzelner, die in jedem Volk, in jedem staatlichen Gebilde meist nur als dünne Schicht vorhanden sind. Vom Snobisten trennt den Gebildeten jene beständige Unruhe, das – wenn ich so sagen darf – spirituelle Glück, welches ihm zuteil geworden ist, in anderen eben so wirkend zu machen. Niemand kann ihm eine »Funktion« erteilen, denn seine eigentliche Berufung kommt aus ihm selbst. E bleibt kraft des Feuers, das in ihm brennt, immer der Herr seiner selbst, und in Zeiten, da Geistiges hauptsächlich danach beurteile wird, ob es einen realen gesellschaftlichen Nutzen abwirft, eine sehe abseitige, ja meist sogar suspekte Erscheinung.
Dem inneren Prozess, den er durchgemacht hat, verdankt der Gebildete seine untrügliche Empfindung für jenes Echte und Gültige, welches die Zeiten und alle gesellschaftlichen Wandlungen überdauert. Einzig und allein daraus wächst, wenn man will, sein Wert, sein »Nutzen«. Erlebten wir es denn nicht immer und immer wieder, dass das Werk eines mächtigen Dichters, eines Künstlers oder Philosophen generationenlang vergessen wird? Man kennt höchstenfalls noch einige Namen davon. Wer hebt sie ins Licht und bewirkt, dass Werk an und Schöpfer in ihrer ganzen Größe und Bedeutung werden? Derjenige, der – eben weil er sich in langen Abständen immer wieder damit beschäftigt – sie neu entdeckt und in aller Munde bringt, der Gebildete. Anzunehmen, dass solche Neuentdeckungen nur bestimmte Perioden innerhalb des Zeitverlaufes hervorrufen, die für das Spezifische der vergessenen Werke besonders empfänglich sind, ist nur halb richtig und höchst anfechtbar. Vom rohen Diamant weiß man wohl, dass er einen unbestimmbaren Wert hat, und auch den erahnt nur der Kenner. Der Schleifer aber holt erst das aus ihm heraus, was für uns Menschen Bedeutung gewonnen hat: den tiefen Glanz, die faszinierende Strahlung die erregende Freude bei seinem Anblick. Ahnender Kenner und Schleifer zugleich – das ist der Gebildete, der »bewusst Beseligte« . Winckelmann, den Lessings Laokoon auf seinen richtigen Weg brachte, war so einer. Ohne diesen märkischen Schusterssohn ist das weitreichende Panorama unserer Bildung, das Goethe genauso wie noch Burckhardt und Nietzsche mit einbegreift, nicht zu denken.
Der Gedanke liegt nahe, dass mit dem, was hier als »gebildeter Mensch« bezeichnet wird, eigentlich der schöpferische Künstler, der Dichter, Musiker oder Maler, gemeint ist. Dagegen steht die Erfahrung, dass eine derartige Begabung oder Genialität, eben durch
eine meist gefühlsgeleitete Einseitigkeit, aus welcher sie ihre Kraft bezieht, oft sehr weit von Bildung entfernt ist. Ausnahmen zugestanden, gibt es eine Menge sehr beschränkter, ausgesprochen dummer Künstler, und das immer wieder Verblüffende dabei ist, dass darunter viele Schriftsteller sind, und nicht die schlechtesten.
Nein, ein gebildeter Mensch ist weder dumm noch beschränkt, und seine Klugheit lebt mehr in der Nähe der genießenden Weisheit. Er ist ein dankbar Aufnehmender und neidlos Verschenkender. Die »bewusste Beseligung« hat seinen Verstand und sein Gefühl in ein vollkommenes Gleichgewicht gebracht. Seine Ausstrahlung gleicht dem Römischen Brunnen Conrad Ferdinand Meyers. »Er nimmt und gibt zugleich.« Dadurch wird der Gebildete zum Bildenden. Denn keine wirkliche Beseligung kann für sich allein bleiben. Sie muss sich mitteilen. Erst dadurch, dass sie andere daran teilnehmen lässt, wird sie zu dem, was sie ist. Im anderen Falle bleibt sie steriles Selbstbegnügen. Es gibt keine unaktive Bildung; auch das Bildungsgut, das uns zufiel, hat eine fortzeugende Aktivität. Wahre Bildung unterscheidet sich von jener, die sich als solche ausgibt, dadurch, dass sie keine Enge kennt, alle Grenzen durchbricht und über die Zeit hinauswirkt, um in nachfolgenden Generationen den gleichen Gefühlsdrang, die gleiche intellektuelle Unruhe zu erhalten und neu zu entzünden.
Von Ludwig Tieck, dem man fälschlicherweise noch immer die deutsche Mitübersetzung Shakespeares zuschreibt, wissen wir, dass er einer der belesensten Männer seiner Zeit war. Seine viel bewunderte, scheinbar so hohe Bildung blieb sehr begrenzt auf kleine Zirkel und starb mit ihm. Nicht er, der nur romantisierte und nie ihr Wesentliches begriffen hat, schuf die Romantik und fundierte sie, sondern die Brüder Schlegel, Novalis, Arnim und Brentano; aber davon abgesehen: Im Vergleich zu ihm las Goethe wenig und sehr langsam. Die Bildung Goethes aber – selbst wenn man einmal sein rein dichterisches Werk ganz beiseite lässt – hat nachkommenden Generationen bis zum heutigen Tage Dinge erschlossen, die erst er in ihrer letzten Tiefe erfühl- und begreifbar machte.
New York, den 29. August 1950
Leseprobe S. 121 – S. 127 aus
Oskar Maria Graf:
An manchen Tagen. Reden, Gedanken und Zeitbtrachtungen. Werkausgabe Band XII, herausgegeben von Wilfried F. Schoeller.
München : List, 1994. 340 S. Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3471776964