Anm. zum Studium O. M. Grafs

Allmählich aber verlor sich diese Schüchternheit, und ich suchte auch andere Hörsäle auf.
Es war überall das gleiche. Höchstenfalls hatte dieser oder jener Professor eine tiefere oder hellere, eine deutlichere oder undeutlichere Aussprache. Hier zerredete einer eine Stunde wegen einer Wortwendung in einem mittelhochdeutschen Gedicht, dort erging sich einer über das psychologische Prinzip bei Nietzsche, ein anderer wieder lehrte über Gottesglaube und Götterverehrung im Altertum und in der Jetztzeit, und jener las über Strafrecht und seine Fundamente im modernen Kulturstaat. Ich schaute den Redner an, ich blickte auf die Studenten und Studentinnen ringsherum.
Es kam mir vor, als hätten sie alle die gleichen Gesichter. Sie rückten die Bänke, hatten ab und zu ein Blatt Papier oder ein Heft vor sich und notierten. Hin und wieder strampelten sie oder scharrten mit den Füßen wie unartige Schulkinder, dann gingen .wieder weg mit ihren Mappen.

Ich sah noch genauer hin und dachte alsdann über die Laufbahn eines solchen Menschen nach. Also so etwas wird nach einer Reihe von Jahren wieder Professor und steht auch wieder da vorne hinter dem Pult und redet? Und die? Die werden Richter und richten uns. Diese werden Pfarrer, predigen und halten Messe, und die treten später in den Staatsdienst, fangen als niedere Leute an, vermählen sich züchtig, werden befördert, bekommen Titel und Rang und regieren uns schließlich.
Die Universität also, das war die Einrichtung, wo man immer und immer, Jahre hindurch, zuhört und dann noch so und so viel Bücher durchliest, und endlich wird man etwas. Das gibt sodann die gebildete, bessere Gesellschaft.

Arbeiter arbeiten, die Bauern pflügen und ernten – diese Leute aber sagen, was richtig und falsch, was gesetzlich und ungesetzlich, sittlich und unsittlich ist. Mit einem Wort, diese Leute geben den Ton an, sie verstehen es, den gesunden Menschenverstandes so umzumodeln, jedes Wort und jeden Begriff so vieldeutig zu machen, dass der einfache Mensch davon verwirrt wurde und Respekt davor bekam, ja, noch mehr, sogar- eine undefinierbare Furcht.
Und das? Das machte ihn dann dieser Gesellschaft gefügig. »Wissen Sie, lieber als all diese Studenten und Studentinnen, die jeden Monat von daheim ihr Geld bekommen und hinten und vorn nichts, gar nichts vom Leben kennen, lieber ist mir doch der nächstbeste Lumpensammler!« sagte ich zum Rote-Kreuz-Mann. Der fing sofort an, mich zu belehren.
»Aber Herr Graf!«« rief er: »Herr Graf, Sie sind Rationalist! Sie sind durch und durch mechanistisch eingestellt. Sie müssen denken, die Universität ist eigentlich ein geistiger Staat! . . . Die Universität ist die höchste sittliche Warte!«« Und schon kam er ins Eifern: »Zu Luthers Zeiten zum Beispiel war sie der Sammelpunkt der ethisch Reifsten aus dem ganzen Volk! . . . Das soll auch heute noch so sein und ist auch meistens noch so.«
»Ja, aber das – das kostet doch eine Masse Geld da drinnen . . . Ein armer Mensch kann da doch gar nicht hingehen«, erwiderte ich plump und gehässig und fuhr gleich weiter: »Wenn keine Universität und all diese schönen Sprüche nicht mehr sind, deshalb geht die Welt genau so weiter! . . . Ethisch Reifsten, sagen Sie? . . . Die da drinnen können leicht gut und gebildet und anständig und weiß Gott was sein, sie haben keinen Hunger und die besten Aussichten!««
Der Mann warf sich förmlich auf mich.
»Aber Herr Graf, Sie müssen doch bedenken, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt, und wir sind doch eine Nation, ein Staat!« rief er und nahm mich in seine Wohnung mit. »Staat, Nation? Das sind bloß alles fixe Ideen! Alles bloß Erfindungen der Oberen! Wir brauchen bloß Menschen!« erwiderte ich polternd.
Die Frau des Mannes redete jetzt auch. Der Mann fing wieder von Kleist an, vom sittlichen Kern der Nation, vom deutschen Geist.
»Ah, Geist!« brummte ich plötzlich geringschätzig und missmutig: »Immer heißt ’s gleich, man muss Geist haben und Charakter haben … Ich hab‘ die zwei Sachen nicht gelernt.«
»Ja, aber Sie dichten doch, Graf! Der Dichter ist überhaupt das Allergeistigste!« trieb mich der Mann in die Enge.
»Ja, ich will ja eigentlich bloß Unterhaltungsschriftsteller werden«, sagte ich in Ermangelung einer besseren Widerlegung und teilweise aus reiner Wut.
Er sah mich lächelnd an, seine Frau schüttelte verzeihend den Kopf.
»Ja, zu was schreiben Sie denn dann Gedichte?« fragte der Mann. »Das – das sind nur Übungen«, erwiderte ich wie vorhin, »das andere kann ich eben noch nicht.«
Ich wollte abstoßen, aber die Leute fingen immer wieder mit Belehrungen an. Die Frau hatte die Zeitung in der Hand, schlug sie auseinander, las laut über einen kleinen Fortschritt unserer Truppen im Westen und sagte jammernd: »Um Gottes willen! … Entsetzlich, die neunte Kompanie! Wird doch meinem Bruder nichts zugestoßen sein.«
Ich sah flüchtig auf die Titelseite. In fett gedruckten Lettern las ich fliegend: >Revolution in Russland! Kerenski  gestürzt! Petersburg und Moskau in der Gewalt der Revolutionäre! Arbeiter- und Bauernregierung in Russland!<
Es durchzuckte mich wie elektrisch. Ich sprang auf die Zeitung und starrte auf die Botschaft, dass die zwei fast zurückwichen. »Mensch!« stieß ich jäh heraus: »Mensch! Die Revolution! Revolution!« Ich achtete auf nichts mehr.
»Die Revolution fängt an! Auf der ganzen Welt! Es wird ganz, ganz anders« sagte ich wie in einem Rausch: »Jetzt geht die neue Zeit an!«

Quelle dieser Leseprobe:

S. 293  bis 295  in
„Wir sind Gefangene“ , Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt  die 1927 erstmalig veröffentlichte Autobiografie;   Thomas Mann urteilte über Grafs erfolgreichsten Roman, er sei ein „menschlich-historisches Zeugnis von unvergänglichem Werte“, und verhalf ihm früh zur Übersetzung in den USA: „Prisoners All“ erschien 1928;   Übersetzungen in alle Weltsprachen folgten.

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