Der Schillertag

Dieses ist am 9. Mai 1905, wie ich schon in der großen Schule, in der fünften Klasse gewesen bin, passiert, und warum ich das Datum so genau weiß, wird sich bald herausstellen. An dem Tag hat in der Frühe die Sonne frisch und blank geleuchtet, im Lehrergarten hat der dickdoldige Flieder geduftet, und lustig haben die Vögel überall gesungen. Wir sind nach der Messe aus unserer Pfarrkirche gekommen und ins Schulhaus hinüber, sind polternd und schwätzend im hellen Treppenhaus über die Stiegen hinauf gestürmt und in unser Schulzimmer gekommen. Und da auf einmal ist uns jedes Wort steckengeblieben, und jeder hat bloß noch ganz verdutzt geschaut.
Was war denn jetzt das heute für ein besonderer Tag? Unsre Schlussprüfung am ersten Mai haben wir doch schon hinter uns gehabt, und so festlich hat es bei derselben nie ausgeschaut? Warum sind denn an den Wänden und Fenstern frische Blumengirlanden gewesen, und was war denn das für ein Bild zwischen zwei Rosensträußen auf dem Katheder? Näher hingehen haben wir uns gar nicht getraut, wenngleich der Männer noch gar nicht dagewesen ist. Ganz feierlich benommen sind wir gewesen und auf unsere Bankplätze gegangen, haben uns hingesetzt und wieder neugierig auf das eingerahmte Bild auf dem Katheder geschaut. Es hat ein hageres, vorgebeugtes Gesicht mit einer spitzen, arg herausspringenden Hakennase, zwei großen Augen, einer hohen Stirne und langen, dichten, nach hinten gekämmten Haaren gezeigt. Der altmodische Mantelkragen ist am Hals hoch gestülpt und vorne offen gewesen, und da heraus ist was bauschiges Weißes gehängt, ungefähr so wie bei den feinen Blusen vorne von der Nanndl ihrer Taufpatin, der Strauchin. Unter das Bild ist was hingekritzelt gewesen, was kein Mensch lesen hat können, und wir haben in einem fort hin und her geraten, ob das da vorne jetzt ein Mann oder eine Frau ist, denn dem Gesicht nach hat es nicht wie eine solche ausgesehen. Da endlich ist unser Hauptlehrer mit zwei großen, sauber gepackten Paketen zur Türe hereingekommen und geschwind an den Katheder gegangen. Über den haben wir uns erst recht gewundert, denn er ist heute ganz feiertäglich wie bei der Prüfung, zu Ostern oder Pfingsten angezogen gewesen. Ich habe voller Spannung immer auf seine schön gebundene Krawatte mit der Perlennadel, auf seinen grauen Cutaway und in sein ernstes, hageres Spitzbartgesicht mit dem silbernen Zwicker geschaut. Sehr aufgelebt haben seine Augen geglänzt, und sogar seine alten, blassen, eingefallenen Wangen sind leicht rot gewesen.

Wie mir muss es auch allen anderen gegangen sein, denn wir haben vor lauter Staunen ganz das Aufstehen und „Guten Morgen, Herr Lehrer Sagen“  vergessen, und er hat nichts dergleichen verlangt. Erst nachdem er seine zwei Pakete abgestellt gehabt hat, ist er neben das blumengeschmückte Bild hingegangen und hat sich feierlich gerade aufgerichtet, und alsdann hat er mit einer leicht bewegten Stimme »Guten Morgen, Kinder!« gesagt. Mit »Kinder« hat er uns fast zärtlich angeredet, und das hat er noch nie getan.

»Kinder!« haben wir gehört und sind auf einmal mit einem Ruck aufgestanden und haben den Morgengruß gesagt. Sonderbar, der Männer hat uns diesmal nicht das Hinsetzen befohlen, und wir sind voller gespannter Erwartung stehen geblieben. Keiner hat einen Muckser getan, gewispert oder sich gerührt, mäuserlstill haben wir uns verhalten und bloß den Lehrer angeschaut. Der hat ganz kurz gehüstelt, sich noch grader aufgerichtet und ganz mild und wunderschön gesagt: »Heute ist ein großer Tag, ein Tag, der nicht nur in ganz Deutschland, sondern auf der ganzen Welt gefeiert wird. Heute vor hundert Jahren ist der Mann, den ihr hier auf dem Bild seht, gestorben. Er hieß Friedrich von Schiller und war einer unserer größten Dichter. Setzt euch, auch wir wollen diesen hundertsten Todestag feiern, und ich will euch erzählen, wer Friedrich Schiller war, was er uns für schöne, unvergessliche Werke hinterlassen hat und wie wir ihm am besten dafür danken können.«
Es mag schon sein, dass sie woanders auch sehr schön über den Schiller geredet haben, aber so wunderschön wie bei unserm Lehrer ist das bestimmt nicht gewesen. Mir ist alles, was er gesagt hat, so ins Ohr und ins Inwendige hineingegangen, dass ich mir jedes Wort gemerkt und nimmer vergessen habe. Angefangen hat er mit dem Schiller seiner stillen Jugend in Marbach, einem „Schwabenstädtchen“ – wie der Männer gemeint hat -, nicht recht viel größer wie unser Bezirksort Starnberg, aber mit vielen altertümlichen Fachwerkhäusern, in Marbach zwischen Heilbronn und Stuttgart am Neckar, im jetzigen Königreich Württemberg, das damals noch Herzogtum gewesen ist.
»Aber heute«, hat der Männer stolz und laut gesagt, »heute steht dort vor dem Geburtshaus des Dichters, und ihr müsst euch denken, das ist ein ziemlich ärmliches Haus, es hat auch den Eltern Schillers gar nicht gehört, sie wohnten darin in einer einzigen Kammer, weil der Vater unseres Dichters ein armer pensionierter Militärarzt war, der oft kaum die Miete aufbringen konnte – heute stehen vor diesem unscheinbaren Haus mit dem hohen Giebel und den kleinen Fenstern Fürsten und Minister und die berühmtesten Leute aus allen Ländern und ehren das Andenken Friedrich von Schillers!«
Da hat er eingehalten, schier so, wie wenn er sich ein bissl wegen seiner Begeisterung genieren täte, aber er hat sich nicht geschnäuzt und auch nicht geschnupft, wie er es manchmal getan hat bei einer Verlegenheit. Er hat bloß mit dem Schnupftuch ein paar Mal über seine Nase gewischt, dasselbe eingesteckt und sich wieder grad aufgerichtet.

»Friedrich von Schiller war also nicht das Kind von feinen Herrschaften«, ist er alsdann ruhiger fortgefahren in seiner Rede: »Er war arm und von Kind auf sehr mager und kränklich. Er hat sein Leben lang an Brustschmerzen gelitten, und weil er so schwächlich war und Talent hatte, wollte er wenigstens Geistlicher werden. Sein Vater aber konnte ihn erst studieren lassen, nachdem er beim damaligen Herzog Karl Eugen von Württemberg in Ludwigsburg Hofgärtner geworden war. Der Herzog nahm die Söhne seiner Beamten meistens in sein militärisches Institut, in die Karlsschule, auf. Dort aber ging es sehr soldatisch und grob zu. Das vertrug der junge, zarte Schiller nicht. Er vertrug auch etwas anderes nicht: Auf der Karlsschule waren meistens die Söhne von adeligen und reichen Leuten, und die lernten schlecht, waren faul und eingebildet. Es zeigte sich auch bald, dass es auf der Karlsschule gar nicht so sehr aufs Lernen ankam, die Hauptsache war, dass einer recht schmeicheln und kriechen konnte vor den Lehrern und dem Herzog.«
Jetzt auf einmal ist mir in den Sinn gekommen, dass ich das alles schon daheim gelesen hatte, und immer interessierter, fast wie besessen habe ich beim Erzählen vom Männer auf das nächste Wort gewartet und plötzlich angefangen, dem Lehrer fort und fort zustimmend zuzunicken. Das muss ihn irritiert haben, vielleicht war es aber auch anders. Er hat sich kurz besonnen und ist von da ab viel lebhafter geworden. Finster hat er auf einmal seine Stirn gerunzelt und streng, wie strafend, gesagt: »Dieser Herzog Karl Eugen war ein schlechter Fürst, ein unbarmherziger, verschwenderischer Mensch, der alle Steuergelder seines armen Volkes gewissenlos verprasste und ein wahres Schreckensregiment führte. Er konnte nur die leichtsinnigen Schmeichler leiden. Leute, die ihm die Wahrheit sagten, ließ er einkerkern oder hängen!«
Sicher ist es da allen eingefallen, dass er uns im Winter beim Erzählen vom Schmied von Ochsenfurt und vom Robinson Crusoe die Bösewichte auch immer so geschildert hat. Wir haben es ihm dabei direkt ansehen können, dass er selber auf diese Burschen wütend geworden ist, und uns ist es natürlich alsdann auch so gegangen wie ihm. Drum haben wir diesen Herzog Karl Eugen jetzt auch gehasst und die reichen, eingebildeten Mitschüler vom Schiller verabscheut und die Schmeichler am Hof des Herzogs von ganzem Herzen verachtet. Ich habe mir mit aller Schnelligkeit schon ausgedacht, was ich denen alles insgeheim angetan hätte, diesen ekelhaften Lumpen und Feiglingen, aber weit bin ich damit nicht gekommen.
»Unter dieser Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit«, hat der Lehrer bereits drüber weggesagt, »hat der junge Schiller schwer gelitten. Es nagte an ihm, er hat es sein Leben lang nicht vergessen, denn er hatte ein zartes Herz voll Mitleid für die Armen, er war ja selber ein Armer. Den Titel „von“ hat er erst viel später bekommen, da war er schon zweiundvierzig Jahre und Professor in Jena, aber schon drei Jahre darauf hat er sterben müssen. Er war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden.«
Wir schnauften fast hörbar und schauten schier bitthaft auf den Lehrer, weil jeder gemeint hat, die schöne Geschichte ist jetzt zu End, und wir freuten uns alle, dass er gleich wieder weitererzählte und uns ausdeutschte, was für einen schweren Lebenskampf Schiller gehabt haben muss, wenn er schon mit fünfundvierzig Jahren sterben musste. Jetzt ist er überhaupt erst richtig in Schwung gekommen, und Herrgott, wie mir das gefallen hat, die abenteuerliche Flucht aus der Karlsschule vom Schiller, seine flammende Empörung gegen die Ungerechtigkeit und die Tyrannen, alsdann die notigen, harten Jahre als Theaterdichter in Mannheim und die Aufführung seines ersten Theaterstückes Die Räuber, seine Bekanntschaft mit dem Theodor Körner, endlich seine Anstellung als Professor in Jena und zuletzt seine Freundschaft mit dem allergrößten Dichter Johann Wolfgang Goethe in Weimar. Hie und da hat der Lehrer auch was aus dem Lied von der Glocke vom Schiller zitiert, und recht genau hat er erklärt, um was es in seinen Theaterstücken Kabale und Liebe und Wilhelm Tell geht.

»Da seht ihr also, und merkt euch das in eurem Leben«, hat er dabei gesagt, »als armer, geknechteter Mensch fing Schiller an, alle Ungerechtigkeit und Fürstenwillkür zu bekämpfen. Der schwächliche, kranke Mensch hat keine andere Macht besessen als sein Talent und seinen festen Charakter. Diese beiden Eigenschaften haben ihn mächtiger gemacht als alle Fürsten und Reichen der Welt. Er hat geglaubt, dass es ein ewiges Recht für jeden Menschen gibt, ganz gleich, wie klein und arm dieser Mensch auch sein mag. Darum heißt es im Wilhelm Tell:

„Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last,
greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel
und holt herunter seine ew’gen Rechte,
die droben hangen unveräußerlich
und unzerbrechlich wie die Sterne selbst. … “

Damit hat er aufgehört und noch eine Weile gradaus in die sonnige Luft von unserm Klassenzimmer geschaut. Seine Wangen waren rot, und seine Augen hinter den Brillengläsern haben fast sternblank geglänzt, grad und steif ist er dagestanden, und stumm haben wir ihn angeschaut, als wie wenn er ein ganz anderer Mensch wäre. Endlich hat er sich gerührt, ist auf die Pakete zugegangen und hat sie aufgewickelt. Da sind auch wir wieder aufgegleimt.
»Und jetzt will ich euch sagen, wie wir Friedrich von Schiller am besten danken können«, hat er wieder ganz wie immer gesagt: »Ich habe da schöne Büchlein mit Bildern, die sein Leben und seine Werke beschreiben. Das königliche Ministerium hat sie zur Erinnerung an den hundertsten Todestag des Dichters drucken lassen. Ein Büchlein kostet zwanzig Pfennig. Wer will eins?« Auffällig ist es mir gewesen, dass sich sogar die Dümmsten an den Katheder gedrängt haben und jeder eins wollen hat. Zurück sind wir in unsere Bänke und haben eifrig in dem Büchlein geblättert und die vielen Bilder angeschaut.
»Aber das ist unser Dank noch nicht ganz«, hat der Lehrer mitten hinein gesagt: »Wir wollen von heute ab eine Schulbibliothek einrichten. Jedes von euch hat in der Woche zwanzig Pfennig zu entrichten. Fragt eure Eltern, und wenn wir genug Geld haben, werden dafür Bücher bestellt, die ihr bei mir ausleihen könnt. Habt ihr mich verstanden?«
»Ja!« haben wir alle überlaut geantwortet, dass schier die hohen Fenster gezittert haben.
»Gut! Das ist schön«, sagt der Männer, und da habe ich – vor lauter Unruhe und Begeisterung ist kein Unterricht mehr zusammengegangen – den stolzesten Augenblick meiner ganzen Schulzeit erlebt. Wieder nach einer Weile nämlich hat der Lehrer freundlich zu fragen angefangen, wer von uns Schülern und Schülerinnen daheim schon eigene Bücher besitzt. Da ist es im Nu rundum stockstumm geworden, denn außer dem Messbuch hat keines eins gehabt. Mir aber – durch meinen älteren Bruder Maurus bin ich damals aufs Klassikerlesen verfallen – ist das Blut ins Herz gestoßen, gezittert habe ich, und über und über rot bin ich aufgestanden und habe übereifrig und keck gesagt: »Ich, Herr Lehrer! Ich habe das, was Sie uns heute erzählt haben, schon alles gelesen, ich habe schon neunzehn Bücher, drei vom Schiller.«
Alle haben sich nach mir umgedreht und mich seltsam angeschaut. Der Männer hat mich ganz kurz gemustert, und ich glaub, alles was er bis dahin gegen mich gehabt hat, ist in dem Augenblick bei ihm verflogen.

»Soso?« hat er bloß gesagt und mich noch mal ganz ins Aug genommen : »Soso. Gut! Setz dich!«

Leseprobe aus:
Oskar Maria Graf: Größtenteils schimpflich (1962) Von Halbstarken und Leuten, welche dieselben nicht leiden können. –  Jugenderinnerungen
kart., 237 S.  ISBN 3-423-10435-X

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